Warum die Situation im Jemen meinen Alltag herausfordert
„Wie geht es Euch?“ fragte ich meine jemenitische Kollegin Amina* (Namen geändert) am Telefon, als im März 2022 saudische Raketen die Hauptstadt Sana`a trafen. „Wir leben. Meine Kinder haben jetzt keine Angst mehr. Sie stehen am Fenster und warten darauf, ob sie eine Rakete sehen“.
„Könnt ihr nicht in einen Luftschutzbunker gehen?“ fragte ich entsetzt. „Wir haben hier keine Bunker!“.
Ich schluckte und ärgerte mich über meine naive Rückfrage, die deutlich offenlegte, dass ich wenig von der Lebensrealität in einem Land verstand, das sich seit über 8 Jahren im bewaffneten Konflikt befindet. Unser Gespräch geht mir noch lange nach.
Jemen – das Land, das in mir so oft eine Spannung auslöst, seit ich mehr darüber erfahre. Jemen, wo seit 2014 schon 85.000 Kinder an Hunger gestorben sind.
Fünfundachtzigtausend Kinder! So viele Menschen leben in Tübingen oder Konstanz.
Jemen – wo Menschen für ihr Überleben auf humanitäre Hilfsleistungen angewiesen sind, während ich mir in der Küche jederzeit einen warmen Hafermilch-Cappuccino zubereiten kann. Als die Öl- und Gaspreise im Zuge des Kriegs in der Ukraine in die Höhe stiegen, stand ein Freund von Aminas Familie zwei Tage lang an, um Gas zum Kochen und Benzin zu bekommen, weil es nicht genug Nachschub gab.
Wie verbunden diese Welt ist. Und wie ungerecht.
Vom Umgang mit der Spannung
Diese Realität ist für mich schwer zu ertragen. Dass es mir hier in Deutschland an nichts fehlt, macht es nicht leichter. Manchmal möchte ich am liebsten die Augen vor der Realität verschließen. Sie löst in mir ein schlechtes Gewissen aus, ganz oft auch ein Ohnmachtsgefühl. Einen Gedankenstrom von „eigentlich sollte ich, könnte ich, müsste ich mehr tun…“.
Weltschmerz.
Ein Wort, das diese Gedanken und Gefühle umschließt. Schmerz, weil die Welt so ist, wie sie ist. Und es ist wohl eine Tatsache, dass er zum Leben gehört und nie ganz aufhören wird, solange diese Welt so ungerecht ist, wie ich sie kennengelernt habe.
Viele Umstände und Missstände können Weltschmerz auslösen – der Krieg im Jemen, Hungersnöte, auch andere Risse und Wunden, die diese Welt trägt. Seit ich dieses Gefühl in ein Wort packen kann, frage ich mich oft:
Wie kann ich ihn aushalten? Den Weltschmerz nicht auflösen, indem ich ihn verdränge oder in blinden Aktionismus verfalle? Kann ich mich von ihm sogar in Bewegung setzen lassen und einen Beitrag zur Veränderung leisten?
Ich bin auf dem Weg, diesen Fragen nachzugehen. Dabei habe ich schon manche Antworten und viele neue Fragen gefunden:
Kann es etwa sein, dass wir oft nicht wirklich wahrnehmen, was wir da sehen und hören?
Kann es sein, dass wir den Zustand der Welt gar nicht in Verbindung mit unserem Glauben an Gott bringen?
Und kann es sein, dass wir häufig einfach nicht wissen, wo wir anfangen sollen, um etwas zu bewirken?
Wahrnehmen – Beten – Handeln. Das könnten hilfreiche Schritte sein, im Alltag gut mit dem Weltschmerz umzugehen. Ein paar Gedanken dazu, wie das aussehen kann.
Wege für die Praxis
Wahrnehmen:
1. Versuche die Spannung auszuhalten.
All die die Informationen, die täglich auf uns einströmen, zeigen: Das Leben ist nicht überall gleich lebenswert! An vielen Orten ist die Welt verwundet. Lass uns versuchen, diese Spannung auszuhalten, ohne direkt ins Verdrängen oder Handeln auszuweichen. Ja, das tut weh. Ja, das ist schwer. Aber ich glaube, es ist ein wichtiger erster Schritt.
Bei welchem Thema ist die Spannung für dich besonders schwer zu ertragen?
2. Nimm die Verbundenheit wahr.
Als Familie Mensch sind wir verbunden – mit den Nächsten in unserem Alltag ebenso wie mit denen, die unsere Kleidung herstellen oder unsere Kaffeebohnen ernten. Auch mit Menschen, die aufgrund von Konflikten und Gewalt kein gutes Leben führen können. Lass uns mit ihrer Lebensrealität mitfühlen. Wirklich mitleiden, wo diese schwer und ungerecht ist.
Mit welchen Menschen fühlst du dich auf diese Weise verbunden?
3. Lass deine Perspektive verändern.
Wenn wir den Weltschmerz aushalten, dann passiert etwas: Unser Herz verändert sich. Meine Kollegin im Jemen, das könnten genauso gut du oder ich sein! Denn niemand von uns hat sich die Privilegien oder Benachteiligungen ausgesucht, in die wir hineingeboren wurden. Das weckt eine Sehnsucht in mir, die sich eine lebenswerte Zukunft für ihre Kinder wünscht. Eine Kindheit, in der sie nach Luftballons statt nach Raketen Ausschau halten. Es ist die Sehnsucht nach Veränderung hin zum guten Leben für andere.
Nach welcher Veränderung sehnst du dich?
Wenn wir den Weltschmerz immer wieder aushalten, uns von ihm berühren lassen und die Sehnsucht wahrnehmen, die daraus entsteht, verändern sich unsere Perspektive.
Beten:
1. Lass deinen Weltschmerz und deine Sehnsucht nach Veränderung zum Gebet werden.
Die Realität wird dadurch nicht leichter, aber ertragbar, weil wir unsere Gedanken in Gottes Liebe für diese Welt einbetten können. Lass uns in die Psalmen einstimmen, die über den Zustand der Welt klagen. Und lass uns eigene Psalmen schreiben, die unserem Weltschmerz und der Sehnsucht Worte verleihen.
Welcher Zustand und welche Veränderung soll dein Gebet werden?
2. Werde Teil von Gottes Wirken.
Meinen Blick auf die Welt und die Ungerechtigkeit darin will ich von Gott prägen lassen und mein Handeln nach seinen Werten ausrichten. Und nein – nicht du und ich retten die Welt, weil wir etwas tun, konsumieren oder verzichten. Aber wir sind Teil von Gottes Wirken in und mit dieser Welt. Lasst uns deshalb gemeinsam mit Worten und Taten beten: Dein Reich komme.
Was wir wahrnehmen und wo wir mitfühlen, kann zu unserem Gebet für Veränderung werden. Der Glaube hilft uns, die Realität zu ertragen. Dabei betten wir unsere Gedanken und unser Handeln in Gottes Wirken ein.
Handeln:
1. Fang in kleinen Schritten an.
Damit sich Lebensumstände im Jemen und den vielen anderen Orten verändern, braucht es Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Einzelne. Keine neue Erkenntnis, ich weiß! Unser Alltag ist nur ein Teil davon – aber der, auf den wir Einfluss haben. Lass ihn uns so gestalten, dass auch andere ein lebenswertes Leben haben. Fair gehandelte Produkte, gut überlegen, was wir wirklich brauchen oder ein Projekt unterstützen (wenn du ein tolles Projekt im Jemen kennenlernen möchtest, schau mal hier 😉). Ich bin erst am Anfang, zu entdecken, wie das in täglichen Entscheidungen aussieht. Was kannst du heute für die Veränderung tun, die du dir wünschst?
2. Lass dich von Verbundenheit, nicht von Aktionismus leiten.
Etwas tun wollen, damit die Spannung besser auszuhalten ist? Das kenne ich. Doch es geht nicht darum, den Weltschmerz durch gute Taten leichter zu machen. Es geht darum, uns von der Verbundenheit mit Menschen an anderen Orten unserer gemeinsamen Welt in Bewegung setzen zu lassen. Vom Mitgefühl und der Sehnsucht nach mehr Gerechtigkeit: Wie kannst du deinen Alltag so gestalten, dass ein lebenswertes Leben für andere ein Stück mehr Realität wird?
3. Sprich mit anderen über das, was dich bewegt.
Auch für das große Ganze ist unser Beitrag zur Veränderung gefragt. Indem wir darüber sprechen, was uns bewegt, laden wir andere ein, sich ebenso auf die Reise zum Umgang mit dem Weltschmerz zu machen. Wir können die verwundeten Orte dieser Welt nur gemeinsam verändern. Uns gemeinsam politisch oder gesellschaftlich dafür einsetzen und so auf die großen Zusammenhänge einwirken, die diese Welt überall ein Stück lebenswerter machen. Was kann dein nächster Schritt sein, um daran mitzuwirken?
Schritte in unserem Alltag, die zur Veränderung beitragen, entstehen dadurch, dass wir uns vom Weltschmerz in Bewegung setzen und von Verbundenheit leiten lassen.
Wahrnehmen – Beten – Handeln. Ich möchte mich selbst – und auch dich – ermutigen, den Weltschmerz immer öfters auszuhalten, ihn Gott hinzuhalten und unser Handeln gemeinsam an unserer Sehnsucht nach Veränderung auszurichten. Das beginnt in unserem Alltag – aber es hört dort nicht auf.
Infobox Jemen
Der Jemen ist eines der ärmsten Länder dieser Welt und wurde durch den immer noch andauernden Bürgerkrieg fast komplett zerstört. Die Situation im Jemen ist katastrophal. Laut UN-Berichten herrscht im Jemen die größte humanitäre Krise weltweit.
19 Millionen Menschen leiden an akutem Hunger. Sie wissen nicht, wo sie ihre nächste Mahlzeit oder sauberes Trinkwasser herbekommen.
Tearfund Deutschland arbeitet seit 1998 im Jemen. Gemeinsam mit lokalen Partnern, die die Lage in den jeweiligen Projektgebiete genau kennen, unterstützen sie nachhaltig ganze Dorfgemeinschaften. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung, sowie landwirtschaftliche Projekte gegen den Hunger. Tearfunds Motto lautet: Nächstenliebe, grenzenlos.
Um diese Projekte zu langfristigem Erfolg zu führen, ist Tearfund auf Spendengelder angewiesen. Das DZI-Spendensiegel prüft die Verwendung der Spendengelder jährlich und empfiehlt die Organisation.
Wenn Du den Menschen im Jemen langfristig helfen möchtest, kannst Du gerne eine Projektpatenschaft übernehmen.