Wege aus der Armut – Meine erste Projektreise nach Somaliland
Da dies ein persönlicher Reisebericht ist, möchte ich Dich mit hineinnehmen, welche Frage mich (Jelena Scharnowski) vor dieser Reise besonders umgetrieben hat: Was um alles in der Welt zieht man denn als weiße Frau, Mitte 30, in einem sehr konservativen muslimischen Land an, wo es tagsüber gerne mal über 30 Grad warm ist?! Diese Frage hat mir tatsächlich etwas Kopfzerbrechen bereitet. Was ist für Frauen in Somaliland erlaubt und was nicht? Wie strikt muss ich mich als christliche Europäerin an diese muslimischen Vorschriften halten? Wie respektiere ich diese mir so fremde Kultur und ab wann verkleide ich mich auch einfach nur. Fragen über Fragen.
Meine Kollegin Nasra zeigte mir nach meiner Ankunft erstmal, wie man das Kopftuch richtig bindet.
Eine neue Erfahrung: Kopftuch tragen
Meine Lösung bestand dann einen Tag vor der Abreise in einer kleinen Shoppingtour: Weite lange Hosen, Oberteile die den Po und die Arme bis zum Handgelenk bedecken und natürlich ein Kopftuch. Ohne das geht als Frau in Somaliland gar nichts. Meine Nachbarin bezeichnete meinen neuen Kleidungsstil als „walla-walla“, was ich tatsächlich als sehr treffend empfand 😉.
Beim Aussteigen aus dem Flugzeug in Hargeisa war ich über diese Entscheidungen froh, da wir von vielen Männern in Militärkleidung und Frauen in Abayas (einem langen, lockeren Kleidungsstück, welches die komplette Form des Körpers verhüllt) und einem Hijab (dem Kopftuch) „begrüßt“ wurden.
Die Rolle der Frau in der humanitären Hilfe
In Somaliland hatte ich viele verschiedene Meetings in diversen Büros überall in der Stadt verteilt, unter anderem beim Ministerium für Landwirtschaft. Da wir als Tearfund nie allein Projekte vor Ort umsetzen, sondern immer mit lokalen Partnerorganisationen und auch mit offiziellen Regierungsvertretern zusammenarbeiten, ist uns dieser Austausch enorm wichtig.
Warum sollte auch jede NGO ihren eigenen Ansatz und ihre eigenen Projekte umsetzen, wenn man gemeinsam viel mehr Gutes bewirken kann?!
Eine Sache, die mir besonders aufgefallen ist, ist die Rolle der Frauen in der Humanitären Hilfe. Wenn ich ehrlich bin, habe ich im Vorfeld nämlich folgendes in Somaliland erwartet: Hier haben nur Männer das Sagen und die Frauen bleiben zu Hause, sind ungebildet und haben sich um die (vielen) Kinder zu kümmern.
Jedoch war die erste Person, die ich in unserem ersten Meeting kennenlernen durfte, Ifrah (29): eine (wie sie selbst sagt) feministische Frau, die eine Leitungsposition bei einem unserem Partner innehat. Sie ist Mutter von zwei Kindern, hat Soziale Arbeit studiert und hat sich von ihrem gewalttätigen Mann scheiden lassen. Leider ist es jedoch absolut unüblich, dass Frauen für ihre Rechte in Somaliland einstehen, weshalb es auch in diesem Bereich mittlerweile Unterstützung von NGOs gibt. Gott sei Dank!
Ein Satz von Ifrah ist mit besonders in Erinnerung geblieben: „For a long time men pushed us away. Now we are pushing back.” Diesen Satz von einer muslimischen Frau in einem sehr konservativen muslimischen Land zu hören, hätte ich nicht erwartet!
„Hilfe, ich bin im Busch.“
Armut ist komplex – es gibt aber Wege, die Armut zu überwinden
Zwei Tage lang waren wir unsere Projekte „im Busch“ besuchen – oder wie man bei Tearfund sagt „im Feld“. Tearfund Deutschland arbeitet in mehreren Camps außerhalb Hargeisas, wo Menschen leben, die ihre Heimat aufgrund der Dürrekatastrophen verlassen mussten. Es sind Binnenflüchtlinge – oder, wie der internationale Fachbegriff lautet: „IDP – internally displaced people“.
Während es selbst in der Hauptstadt für die meisten Menschen kein fließendes Wasser gibt, kein Abwassersystem oder geteerte Straßen, sieht es im ländlichen Raum tatsächlich (für meinen weißen europäischen Blick) noch mal viel krasser aus: Die Menschen leben in selbstgebauten Stoffhütten, müssen für ihr Wasser weite Strecken laufen und haben weder einen Job noch großartige Aufstiegschancen. Viele der Frauen, die ich kennenlernen durfte, leben schon seit vielen Jahren in diesen Camps. Wenn sie Glück haben, werden sie von Kindern oder Verwandten finanziell unterstützt – oder sie profitieren eben von der Hilfe von Tearfund.
Ich weiß, dass man mittlerweile im Fundraising keine Fotos mehr zeigt von kleinen schwarzen Kindern, die Fliegen im Gesicht haben…aber genau das habe ich erlebt. Inmitten dieser Flüchtlingscamps leben und spielen Kinder – ohne Schuhe, mit verdreckten Klamotten und tatsächlich mit Fliegen im Gesicht.
Eine Mutter mit ihren beiden Töchtern wird mir besonders im Gedächtnis bleiben
Naima ist 36 Jahre alt und erzählt uns ihre Geschichte, während zwei ihrer Kinder um sie herum spielen. Ihr Mann ist in die Stadt gezogen, um dort nach Arbeit zu suchen. Erfolglos. Naima lebt so die meiste Zeit mit ihren Kindern „allein“ in dem Flüchtlingscamp in Galoole. Ich schreibe „allein“ in Anführungszeichen, da hier der Unterschied liegt. Naima gehört zu einer Selbsthilfegruppe für Frauen, die sich regelmäßig trifft. Hier werden alltägliche Dinge besprochen, aber auch ein Spar- und Investment-Modell umgesetzt.
Naima hat den ersten Schritt aus der Armut geschafft.
Jede Woche legen die Frauen umgerechnet fünf Cent (oder auch weniger, je nachdem wie „wohlhabend“ eine Frau ist) in eine Sparbox. Wenn diese Sparbox genug gefüllt ist, kann eine Frau sich davon Geld leihen und dies z.B. in eine Kuh investieren. Mit dieser Investition erwirtschaftet sie wiederum Geld (durch den Verkauf von Milch z.B.) und kann so ihren Kredit der Spargruppe wieder zurückzahlen. Mit diesem Wissen im Hinterkopf, konnte ich die Kühe (Naima hat mittlerweile sogar schon drei Kühe) mit ganz anderen Augen betrachten! Sie stehen für hartes Arbeiten, Geduld, ein Stück Unabhängigkeit, die Stärke einer ganzen Frauengruppe und vor allem Ernährungssicherheit für Naima und ihre Kinder.
Was heißt es also, Armut überwunden zu haben?
Als Leiterin der Kommunikationsabteilung nenne ich solche Personen gerne „Armutsüberwinder“ – Menschen, die es geschafft haben, mit Hilfe einer ganzen Community selbstständig ihre Armut zu überwinden. Nach diesen zwei Tagen im Feld bin ich diesbezüglich jedoch auch ein wenig ernüchtert, wenn ich ehrlich bin. Hat Naima nun ihre Armut schon überwunden? Reicht der Besitz von Kühen da schon aus? Oder was ist mit Samsam, die schon über 64 Jahre alt ist und immer noch im IDP Camp lebt? Ihre Chancen, irgendwann noch ein kleines Geschäft zu eröffnen, sehen nämlich nicht gut aus… Sie wird für den Rest ihres Lebens in ihrer Hütte leben und darauf angewiesen sein, dass Menschen sie unterstützen, damit es für das Lebensnotwendige reicht – Wasser, Essen, Kleidung.
Was heißt es also, Armut überwunden zu haben?! Ganz bestimmt ist es nicht mein europäischer Lebensstandard, den Menschen in Somaliland erreichen müssen. Mit meinem Kollegen Steffen, der ebenfalls mit mir auf der Reise war, einige ich mich darauf, dass die Menschen in den Camps eines Tages nicht mehr auf Tearfund angewiesen sein sollten. Das wäre unser Ziel. Und Naima hat da schon mal einen sehr wichtigen ersten Schritt in diese Richtung getan. Und nun ist es unsere Hoffnung, dass die Regierung in Somaliland, sämtliche NGOs und vor allem die Menschen vor Ort Schritte der Veränderung gehen, damit Menschen ein Leben in Würde ermöglicht wird.
Da Samsams Tochter schwer erkrankt ist, kümmert sie sich um ihre beiden Enkelkinder.
Was ich sonst noch so erlebt habe
- Bei unserem Field Trip wurden auch zwei unserer Gewächshäuser feierlich eröffnet, wo sogar das Fernsehen am Start war! Ich kann jetzt also sagen, dass ich in Somaliland im Fernsehen war.
- Die Vizepräsidentin des Ministeriums für Landwirtschaft heißt „Europa“. Das fand ich irgendwie witzig.
- Gegessen wird mit den Händen! Messer, Gabel, Löffel sind bei einem traditionellen Essen überflüssig. Ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber schmecken tut es genauso gut.
- Ich lerne, dass man in arabischen Ländern kein Klopapier verwendet…sondern dass immer eine kleine Wasserdusche neben der Toilette hängt. Auch das ist gewöhnungsbedürftig, aber hier weiß ich noch nicht, ob ich mich daran gewöhne/ gewöhnen möchte. 😉
- Zig Stunden mit einem Landrover (und wie ich finde einem todesmutigen Fahrer…) durch den Busch zu fahren ist absolut nicht mein Ding.
- Bei unserem Teamtag in Berbera war ich zum ersten Mal schwimmen im muslimischen Stil: getrennt von den Männern und mit langer Hose und Oberteil. War aber gar nicht so schlimm, sondern eine ganz wundervolle Zeit mit meiner Kollegin Nasra!
Um diese vielen großartigen Projekte in Somaliland umsetzen zu können, brauchen wir neben den staatlichen Förderungen unbedingt freie Spendenmittel, um Gehaltskosten, Verwaltungskosten und unvorhergesehene Kosten in den Projekten bewerkstelligen zu können. Wenn es Dir möglich ist, unterstütze Tearfunds Arbeit in Somaliland gerne mit Deiner Spende!