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22 August 2024
Uwe Heimowski

Die vergessene Krise: Menschen im Jemen

„Wenn Sie uns nur von hinten fotografieren, dürfen Sie die Bilder gerne veröffentlichen, aber nur dann. Alles andere kann lebensgefährlich für uns werden.“

Die beiden Männer im Anzug und die Frau mit dem Kopftuch stehen vor einem großen Glasfenster im Paul-Löbe-Haus und schauen auf den Reichstag. Sie kommen aus dem Jemen. Alleine schon der Umstand, dass sie dieser Einladung in den Deutschen Bundestag gefolgt sind, kann gefährlich für sie werden. Ihre Identität bleibt geheim. Es sind eine Ärztin, ein Arzt und ein Pastor. Sie berichteten von der vergessenen Katastrophe in ihrem Land: Bürgerkrieg mit Hunger und Cholera-Epidemie, täglichem Raketenbeschuss aus Saudi-Arabien – und für die Christen, die ihren Glauben nicht offen leben können, Bespitzelung und Verfolgung. Die junge Frau hat nur ein Auge, das andere verlor sie bei einem Attentat.

Es gibt vier Kirchen im Land, aber nur für westliche Ausländer. Jemeniten dürfen nicht konvertieren. Schätzungen gehen dennoch von 5.000 bis 10.000 Christen aus. Sie treffen sich in Hausgemeinden im Untergrund.

Verhaftet, verhöhnt und geflohen

Wie gefährlich es sein kann, für eine, christliche NGO zu arbeiten, hat Nabil erlebt. Der Tearfund Mitarbeiter wurde 2016, ein Jahr nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs, verhaftet und verhört. Ihm wurde vorgeworfen, ein heimlicher Christ zu sein. Tatsächlich ist er Muslim, doch Jesus Christus motiviert ihn:

„Eines der Dinge, die ich am Christentum mag, sind die Sätze von Jesus, der sich um die Armen gekümmert hat. Ich habe nach Gemeinsamkeiten zwischen dem Islam und dem Christentum gesucht. Ich glaube, dass alle Menschen auf dieser Welt zusammenleben sollten, um diese Erde aufzubauen und Frieden für alle zu schaffen.“

Nach 11 Nächten in Haft wird er für kurze Zeit entlassen und nutzt die Gelegenheit, um mit seiner schwangeren Frau und ihrem Kind nach Jordanien zu flüchten. Von dort aus koordiniert er die Arbeit von Tearfund im Jemen bis heute.

Die Begegnung im Bundestag war im Jahr 2019. Damals arbeitete ich für die Evangelische Allianz, wir hatten die Gäste aus dem Jemen eingeladen. Für mich war es die erste direkte Begegnung mit Menschen, die im Jemen leben. Auch gab es kaum Informationen über das Land, westliche Presse war nicht zugelassen.

Heute ist der Jemen in aller Munde

Die Raketen, die aus dem Jemen nach Israel abgefeuert werden, schaffen es in die Schlagzeilen. Die humanitäre Katastrophe und das Elend der Bevölkerung dagegen nicht.

Laut Angaben der Vereinten Nationen gibt es derzeit 4,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Mehr als die Hälfte der 30,5 Millionen Menschen benötigen humanitäre Unterstützung. Jedes zweite Kind unter fünf Jahren leidet an akuter Unterernährung. Nahrung, Wasser, medizinische Grundversorgung – es mangelt den Menschen an allem.

Gott sei Dank sind sie nicht ganz vergessen. Verschiedene NGOs sind im Jemen tätig, auch Tearfund Deutschland arbeitet seit 1998 im Land. Neben direkter Nothilfe arbeiten wir vor allem daran, die Wasserversorgung und Nahrung zu sichern. Wir gründen in Dörfern „Wasserkomitees“, die dann gemeinsam Zisternen sanieren oder Toiletten bauen. Im Projekt „Hühner gegen den Hunger“ ermöglichen wir Frauen den Aufbau einer Hühnerzucht. Diese Projekte werden mit Hilfe des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert, die Eigenanteile tragen Kooperationspartner wie Tearfund Australien – und unsere Spender. Der Bedarf ist weiterhin groß.

Ob wir sicher sind, werden wir immer wieder gefragt. Wir haben in den vergangenen Monaten keine Gewalt gegen Mitarbeiter oder Projekte erlebt, vor allem wohl, weil wir mit lokalen Partnern zusammenarbeiten. Wie wir vermeiden, dass die Hilfsgelder nicht bei Terroristen landen, ist eine andere Frage: Dadurch, dass wir keine zu großen Summen auf einmal überweisen und sehr transparente Abrechnungen erhalten. Außerdem arbeiten wir in sehr ländlichen Regionen, in denen unsere Partner nie direkt Kontakt mit den Rebellen haben. Die Hilfe für den Jemen ist nötiger denn je, solange es möglich ist, werden wir – getreu dem Motto: „Wir gehen dahin, wo die Not am größten ist“ – im Land weiterarbeiten.

Sich aus Sicherheitsgründen für ein Foto abzuwenden ist das eine. Der Not weiter in die Augen zu schauen, das andere.

Uwe heimowski is the CEO of Tearfund GermanyTearfund GermanyÜber Uwe Heimowski

Uwe Heimowski ist ein deutscher Theologe und Autor. Er ist geschäftsführerender Vorstand des christlichen Hilfswerks Tearfund Deutschland. 2016 bis 2022 war er Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz beim Deutschen Bundestag und der Bundesregierung.